Rede von Kerstin Köditz, Landessprecherin der VVN-BdA Sachsen e.V. bei der Gedenkveranstaltung in Zwickau anlässlich der Novemberprogrome 1938

12. November 2025

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Zwickau, 9. November 2025

Der 8. und 9. November 1923. In München scheitert der Hitler/Ludendorff-Putsch, dessen Ziel die Beseitigung der demokratischen Republik war. Unterstützung erhielten die Nazis von der Bayerischen Staatsregierung, die zum rechten Flügel des Konservatismus zählte, sowie von Führern der Armee und der Landespolizei. Der Stellvertreter des diktatorisch agierenden Generalstaatskommissars Gustav Ritter von Kahr, der Herr Hubert von und zu Aufseß, erklärte wenige Wochen vor dem Putsch zu den Zielen der antidemokratischen Aktionen in Bayern: „Es heißt für uns nicht: Los von Berlin! Wir sind keine Separatisten. Es heißt für uns: Auf nach Berlin! Wir sind seit zwei Monaten von Berlin in einer unerhörten Weise belogen worden. Das ist auch nicht anders zu erwarten von dieser Judenregierung.“ „Judenregierung!“ Passend zu diesem offenen Antisemitismus wurden während des Putsches jüdische Menschen als Geiseln genommen.

Der Hitler/Ludendorff-Putsch fand genau fünf Jahre nach der November-Revolution statt, die die Monarchie beseitigt und die parlamentarische Demokratie gebracht hatte. Fünf Jahre nur. Es sei daran erinnert, dass bereits 1920 der sogenannte Kapp-Putsch stattgefunden hatte, der ebenfalls die Demokratie beseitigen sollte. Der tatsächliche Führer dieses am Massenwiderstand gescheiterten Kapp-Putsches war der General Walther von Lüttwitz. Auch damals gehörte General Ludendorff zu den Unterstützern. Und auch damals waren es völkisch-nationalistische Kräfte, die die politische Unterstützung lieferten. Zur Ideologie dieser völkisch-nationalistischen Gruppen und Parteien gehörte selbstverständlich auch der Antisemitismus. Genau fünf Jahre zwischen der Novemberrevolution, die die Demokratie brachte, und dem Hitler/Ludendorff-Putsch, der die Demokratie beseitigen sollte.

Der 9. und 10. November 1938! Fünf Jahre sind wieder vergangen – seit der Beseitigung der Demokratie, seit der Machtübergabe an die NSDAP und an ihre deutschnationalen und rechtskonservativen Verbündeten, fünfzehn Jahre seit dem Marsch auf die Feldherrenhalle, als sie vergeblich versucht hatten, jene Demokratie zu beseitigen, die sie als zutiefst „verjudet“ ansahen. Der Antisemitismus war eine Konstante im Kampf gegen die demokratische Republik. Und während dieser gesamten Zeit von 1918, der Erringung der Republik, bis zu dieser Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 war der Antisemitismus kein Alleinstellungsmerkmal der Nazis gewesen. Ziehen wir eine ebenso nüchterne wie bittere Bilanz dieser Reichspogromnacht: Bis zu 2.000 Jüdinnen und Juden wurden ermordet. Etwa 1.400 Synagogen und sonstige jüdische Versammlungsräume wurden zerstört. Mindestens 30.000 Menschen wurden danach in Konzentrationslagern interniert.

Der Schriftsteller Thomas Mann bilanzierte:

„Es war nicht eine kleine Zahl von Verbrechern, es waren Hunderttausende einer sogenannten deutschen Elite, Männer, Jungen und entmenschte Weiber, die unter dem Einfluss verrückter Lehren in kranker Lust diese Taten begangen haben.“

Die Tradition des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft wurde jetzt von dieser deutschen Gesellschaft ausgelebt. All dies gehört zur Bilanz der antisemitischen Pogrome vom November 1938, einer von den Nazis geplanten und gelenkten Gewaltaktion. Zu dieser Bilanz gehören aber auch das Leid und die Ängste, die tagtägliche Ausgrenzung und Verfolgung jener, die noch nicht direkt betroffen waren. Noch nicht.

Dass dies „Nie wieder!“ geschehen dürfe, werden wir auch dieses Jahr wieder bei allen Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht überall hören. An mahnenden Worten wird es nirgends fehlen. Doch wie sieht die Realität im Jahr 2025 aus? Die Realität bei uns in Sachsen? Antisemitische Vorfälle haben in Sachsen im vergangenen Jahr ein besorgniserregendes Niveau erreicht. Das stellen der Landesverband der Meldestelle Antisemitismus und die Opferberatungsstelle OFEK einhellig fest. Von 192 im Jahr 2023 stieg die Zahl auf 349 im Jahr 2024 an. Fast eine Verdoppelung! Darunter waren viele Beleidigungen, Schmierereien im öffentlichen Raum oder antisemitische Parolen auf Versammlungen. Doch auch Angriffe auf Gedenkorte werden aufgeführt, insbesondere der Diebstahl und die Beschädigung von Stolpersteinen.

Ja, es ist richtig und wichtig angesichts dieser Entwicklung vor der erstarkenden extremen Rechten zu warnen. Doch angesichts der Gefahren für Jüdinnen und Juden dürfen wir nicht beim Blick auf die extreme Rechte stehen bleiben. Bereits bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen stiegen antisemitische Verschwörungserzählungen deutlich an und verbreiteten sich weit über die Neonazi-Szene hinaus. Ich erinnere nur an das widerwärtige Tragen des gelben Sterns durch Ungeimpfte. Und mit dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel am 9. Oktober 2023 erstarkten noch einmal antisemitische Stereotype und Gewalttaten. So leider auch immer wieder im Rahmen von Friedensdemonstrationen, vor allem dann, wenn islamistischer Terror verharmlost und Jüdinnen und Juden pauschal für die undemokratische und brutale Politik der rechten Regierung Israels verantwortlich gemacht werden.

Nie wieder! Ja: Nie wieder! Aber wenn wir das ernst meinen, dann müssen den Worten Taten folgen. Dann ist auch ein Perspektivwechsel notwendig. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, schrieb gestern in einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Dem deutschen Ausruf ‚Nie wieder‘ wohnt ein falsches Verständnis inne. Dem Deutschen geht es darum, nie wieder Schuld auf sich zu laden. Für uns Juden bedeutet ‚Nie wieder‘ hingegen: Nie wieder Opfer sein. Nie wieder wehrlos ausgeliefert sein, wenn fremde Mächte über das eigene Schicksal bestimmen wollen.“ Wenn wir also dieses „Nie wieder!“ ernst meinen, dann müssen wir klar und deutlich sagen: Nie wieder ist jetzt! Der Blick in die Vergangenheit reicht nicht aus. Der Kampf gegen Antisemitismus muss hier und heute geführt werden. Bevor es wieder eine antisemitische Grundstimmung gibt. Wie damals in der Weimarer Republik. Denn:

Die Republik kann man nur in der Republik schützen. Danach ist es zu spät. Wie damals während der Zeit des NS-Terrors. Also: Wider die antisemitische Grundstimmung. Alle, täglich, offensiv, überall. Das ist unsere Verantwortung, wenn wir dem „Nie wieder!“ gerecht werden wollen, wenn es nicht nur ein Lippenbekenntnis an Gedenktagen bleiben soll. Also: Nie wieder!