KZ Sachsenburg – Der zähe Kampf um angemessenes Gedenken

9. Juli 2018

LÄNDERREPORT | Deutschlandradio Beitrag vom 02.07.2018 

Vor der mittlerweile verfallenen Kommandantenvilla des ehemaligen KZ Sachsenburg in Frankenberg (Sachsen) hält Anna Schüller ein historisches Foto der Villa in ihren Händen. (picture alliance / Hendrik Schmidt)Anna Schüller setzte sich mehrere Jahre dafür ein, dass im ehemaligen KZ Sachsenburg eine Gedenkstätte eingerichtet wird. (picture alliance / Hendrik Schmidt)

Bereits im Mai 1933 richten die Nazis ein Konzentrationslager in Sachsenburg bei Chemnitz ein. Es ist eines der Lager, in der die systematische Entrechtung der Insassen erprobt wird. Nun soll eine Gedenkstätte an das Grauen erinnern.

Die ehemalige Zwirnerei liegt idyllisch in einer Flussaue der Zschopau. Es ist ein typischer Industriebau des 19. Jahrhunderts. Im Dreiecksgiebel prangt die Aufschrift „Sachsenburg-Werke“. Die Gebäude sind verwaist und verfallen leise vor sich hin, wie so viele Industriebauten in der einstigen Textilregion um Chemnitz. Mit einem Unterschied: In der Spinnerei von Sachsenburg befand sich das größte und ab 1934 auch das einzige Konzentrationslager in Sachsen.

Schüller: „Das war ein frühes Konzentrationslager, also wurde bereits im Mai 1933 eingerichtet. Für viele überraschend, dass es da schon Konzentrationslager gab. Aber es war sozusagen vorbereitend für das System der späteren Lager.“

Anna Schüller steht auf dem Hof der alten Zwirnerei und blinzelt in die Sonne. Im Hauptberuf ist die 27-Jährige Gymnasiallehrerin für Kunst und Geschichte. Im Ehrenamt engagiert sie sich seit ihrer Jugend dafür, dass dieser Ort nicht stillschweigend in Vergessenheit gerät.

„Wir sind jetzt auf dem Appellplatz des früheren Konzentrationslagers Sachsenburg, was sich von 1933 bis 1937 hier auf dem Gelände befunden hat. Also wir haben hier einerseits die Fabrik, da waren die Häftlinge untergebracht. Und dann haben wir hier die ehemalige Kommandantenvilla, also wo dann die Lagerführer, Kommandanten untergebracht waren.“

600 Männer auf einer Etage

Im Januar 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht. Schon kurz darauf rollte eine Verhaftungswelle über das Reich, die sich zunächst nicht gegen Juden richtete, sondern gegen die politische Opposition: Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter, Christen, Zeugen Jehovas. Gefängnisse quollen über, man wich auf Turnhallen aus. Und dann kamen die ersten Konzentrationslager.

Durch eine massive Holztür mit verglastem Oberlicht betrete ich mit Anna Schüller das Fabrikgebäude. Entlang gelber Wandfliesen steigen wir die breite Treppe nach oben.

„Vom Erdgeschoss bis zur fünften Etage reicht diese Fabrik. Im Erdgeschoss war die Wachmannschaft untergebracht. In den oberen Etagen waren die Häftlinge überall untergebracht.“

An der Stahltür im ersten Stock hängt ein Emailleschild mit der Aufschrift „Spulerei“. Dahinter liegt eine riesige, leere Halle mit niedriger Decke.

Das ehemalige KZ Sachsenburg - zu DDR-Zeiten war hier eine Spinnerei untergebracht. (Iris Milde)Das ehemalige KZ Sachsenburg – zu DDR-Zeiten war hier eine Spinnerei untergebracht. (Iris Milde)
„Es gibt auch Bilder, wo wir sehen, dass also dreistöckige Holzbetten da stehen. Also ich habe jetzt eine Zahl gefunden, dass so um die 600 Männer gleichzeitig in einer Etage waren.“

Gisela Heiden ist Mitglied der Lagerarbeitsgemeinschaft, einem Verein, in dem sich Angehörige ehemaliger Häftlinge zusammengeschlossen haben. Ihr Großvater Hans Riedel, ein Mitglied der KPD, war zwar nur wenige Wochen in Sachsenburg inhaftiert. Aber die Erfahrungen, die er dort machte, haben ihn nicht mehr los gelassen.

Heiden: „Er war ja mit 26 im sogenannten Sportkommando. Das heißt, Männer bis zum 26. Lebensjahr gingen nicht in den Steinbruch, sondern das war Sportkommando. Das heißt also Kniebeuge mit Liegestützen, mit Robben über den Schotter mit freiem Oberkörper und lauter solches Zeug. Da gibt es eine Bezeichnung ‚Häschen hüpf‘. Das heißt, die mussten die Hände an die Fußfesseln nehmen und dann hüpfen. Das mussten die stundenlang tun. Ohne viel zu essen. Und dann zwischendurch Verhöre.“

Entrechtung, Demütigung und Drangsalierung

Das KZ Sachsenburg war ein Arbeitslager. Trotzdem waren Folter und Prügel an der Tagesordnung, die auch Todesopfer forderten. Das belegt der Augenzeugenbericht eines Mithäftlings über das Martyrium des Landtagsabgeordneten der SPD und Journalisten Max Sachs.

Willy Steinbach: „Das Jauchekommando hatte noch nicht lange mit der Arbeit begonnen, da hatten die SS-Bestien den Genossen Sachs schon in die Abortgrube geworfen. Er wurde dann herausgezogen, vollständig entkleidet und nackt in den Waschraum gebracht. Hier wurde Sachs in die Waschmulde gelegt, über der sich die Hähne der Wasserleitung befanden, und mit Schrubbern bearbeitet. Als Sachs nach dieser Behandlung nicht mehr gehen konnte, wurde er an den Füßen gepackt und durch den Tagesraum die Treppe hinunter geschleift, so dass sein Kopf auf jede Stufe aufschlug. Kurze Zeit später wurde dann bekanntgegeben, dass Sachs an Herzschlag gestorben sei.“

Im Deutschen Reich gab es etwa 100 frühe Konzentrationslager, ein Fünftel davon allein in Sachsen. Dabei handelte es sich nicht um harmlose, überdimensionierte Haftanstalten. In den frühen KZs wurde das System der Entrechtung, Demütigung und Drangsalierung entwickelt und professionalisiert. Anna Schüllers Archivrecherchen ergaben, dass Sachsenburg als Ausbildungslager für KZ-Wachmänner genutzt wurde.

Schüller: „Im April 36 waren hier gleichzeitig fast 500 Wachmänner. Und das hängt halt mit dieser Ausbildung zusammen, also dass sie hier wirklich eine militärische Ausbildung bekommen haben.“

Vielleicht berühmtestes Beispiel ist der Lagerleiter von Sachsenburg Karl Otto Koch, der später zum 1. Kommandanten von Buchenwald aufstieg. Um 1937 wurden die bekannten Barackenlager eingeführt. Sachsenburg war damit überholt, die verbliebenen Häftlinge wurden ins neu errichtete Sachsenhausen verlegt.

Das KZ als wirtschaftlicher Faktor

Dass der Ort Sachsenburg über die Verlegung keineswegs erleichtert war, zeigt ein Schreiben des damaligen Bürgermeisters von Frankenberg an die Landesregierung:

„Die Truppe und das Lager sind im Laufe der Zeit zu einem wirtschaftlichen Faktor für die Stadt Frankenberg und die Gemeinde Sachsenburg geworden. Da die Verlegung unabänderlich ist, muss das Bemühen der beteiligten Stellen darauf gerichtet werden, die jetzige Unterkunft des Lagers Sachsenburg einer anderweiten Verwendung zuzuführen.“

Heiden: „Es hört ja 37 dort unten nicht auf. Nach dem Konzentrationslager wurde dort wieder eine Zwirnerei errichtet. Dort kamen Zwangsarbeiterinnen. Und Ende 44 war es dann Kriegsgefangenenlager für die Amerikaner.“

Erzählt Gisela Heiden von der Lagerarbeitsgemeinschaft, die sich seit den 90er-Jahren intensiv mit der Aufarbeitung der Geschichte von Sachsenburg befasst. Auch zu DDR-Zeiten wurde die Spinnerei wieder als solche genutzt. Ein engagierter Lehrer hatte eine kleine Gedenkstätte in der Fabrik eingerichtet, die vor allem von Schulklassen besucht wurde. Doch 1993 musste die Fabrik schließen.

Neben einem Porträtfoto ihres Großvaters Hans Riedel steht Gisela Heiden am Eingang zum ehemaligen KZ Sachsenburg in Frankenberg (Sachsen). (picture alliance / Hendrik Schmidt)Gisela Heidens Großvater Hans Riedel war im KZ Sachsenburg inhaftiert. (picture alliance / Hendrik Schmidt)

Als der Vater von Marcel Hett, dem jetzigen Eigentümer, das Gelände von der Treuhand kaufte, habe er nicht gewusst, dass es sich um ein ehemaliges Konzentrationslager handelte.

Hett: „Das ist das einzige in Privathand befindliche KZ in Deutschland, meiner Meinung nach, vielleicht sogar in Europa, das sollte nicht so sein. Es gehört auf jeden Fall in öffentliche Hand, aber dort gibt man sich reserviert, denn einen weiteren Ausgabenposten möchte man natürlich perspektivisch sich nicht schaffen. Es muss politisch gewollt sein.“

Daran haperte es lange Zeit. Enrico Hilbert von der Lagerarbeitsgemeinschaft erinnert sich:

„Es wurde als Propaganda der DDR und der SED abgetan, dass dort überhaupt jemals ein KZ bestanden hätte, und es war eine sehr schwere und für die damals noch lebenden Häftlinge eine sehr emotionale Zeit. Und es war bis heute ein ziemlich langer Weg, zu sagen, dass das mit uns etwas zu tun hat, mit unserer Demokratie und wie wir mit dieser Geschichte umgehen. Und diese Akzeptanz gibt es mittlerweile.“

Bürger setzen sich für eine Gedenkstätte ein

Das ist das Verdienst der Lagerarbeitsgemeinschaft, aber auch der Initiative Klick, die Anna Schüller mit Freunden 2010 gründete. Ihr Ziel war die Jugendarbeit. Junge Leute sollten sich auf kreative Weise mit der Geschichte auseinandersetzen. Doch immer wieder mangelte es an den grundlegendsten Dingen: Toiletten, Strom, Internet.

Schüller: „Und so in den letzten zwei, drei Jahren haben wir versucht, uns immer mehr auch politisch einzubringen. Weil wir gemerkt haben, wir brauchen diese Gedenkstätte, einfach um einen Rahmen zu haben, wo wir mit Jugendlichen arbeiten können.“

Und sie sensibilisierten die Öffentlichkeit. Durch Ausstellungen, durch Einbindung der Medien, durch Dialogforen. 2012 war das erste Etappenziel erreicht: Das ehemalige KZ Sachsenburg wurde in das Sächsische Gedenkstättenstiftungsgesetz aufgenommen. Doch dann passierte jahrelang nichts. Eigentümer Marcel Hett hätte sich des unbequemen Denkmals in der Zwischenzeit längst entledigen können. Angebote von Käufern gab es.

Hett: „Zum Beispiel ist ein Saunabetrieb nicht vereinbar mit der Örtlichkeit, wäre äußerst lukrativ, dazu bin ich nicht zu bewegen gewesen. Deswegen sehe ich perspektivisch eine öffentliche Trägerschaft für das Areal als ganz, ganz wichtig. Insbesondere auch wegen der Förderungsmöglichkeiten. Denn ein Privatgrundstück ist von einigen Förderungsmöglichkeiten ausgeschlossen.“

In einem kleinen, unscheinbaren Häuschen am Fabriktor befindet sich der gefürchtete „Bunker“, vier Arrestzellen, zwei Quadratmeter klein, über Kopfhöhe eine vergitterte Fensterluke. Anna Schüller deutet auf ein paar mit Bleistift in den Putz gekratzte Zeilen.

Schüller: „Da steht also ’75 Stockhiebe‘ oder hier sind so Datumsangaben: 30. August, 31. August. Dann 23. September, 24. September und immer so weiter und dahinter die Tage, 25 Tage.“

In einer Arrestzelle des ehemaligen KZ Sachsenburg in Frankenberg (Sachsen) leuchten Gisela Heiden (r.) und Anna Schüller mit einer Taschenlampe auf Inschriften an der Wand. (picture alliance / Hendrik Schmidt)Winzig klein und mit nur einem kleinen Fenster: eine Arrestzelle im ehemaligen KZ Sachsenburg. (picture alliance / Hendrik Schmidt)

Neue Wege in der Gedenkstättenpädagogik

Das Zellengebäude und die ehemalige Kommandantur gleich daneben hat Eigentümer Hett der Stadt Frankenberg gegen Erhaltungsmaßnahmen auf dem Gelände geschenkt, allerdings mit der Auflage, dass dort eine Gedenkstätte entstehen soll. Unter dem öffentlichen Druck der vergangenen Monate hat die Stadt Frankenberg, zu der Sachsenburg gehört, reagiert. Sie hat Anna Schüller mit der Erarbeitung eines Konzepts für eine Gedenkstätte beauftragt. Bürgermeister Thomas Firmenich:

„Also ich denke, dass im Stadtrat bisher Einvernehmen herrscht, dass wir in dem ehemaligen Zellenhaus durch die Zusammenführung der beiden Gebäude die Gedenkstätte realisieren. Eine größere Variante, also mit Zwirnerei auf der gegenüberliegenden Seite oder gar der Kommandantenvilla war so auch bisher nicht konkret ins Auge gefasst. Wir haben uns darauf verständigt: Qualität lieber als das ewig riesig zu machen, wo man dann befürchten muss dass wir vielleicht überfordert sind und wir auch finanziell nicht zurecht kommen.“

Anna Schüller hat in ihrem Konzept beide Varianten vorgeschlagen, sieht aber in der Begrenzung auf das knapp 190 m² große Zellengebäude Probleme.

Schüller: „Ich sehe es als eine Möglichkeit, aber ich sehe da auch Schwierigkeiten, weil sozusagen der Zugang sehr steil ist und die Räume sehr eng.“

In den Schlafsälen der Häftlinge habe man dagegen viel Platz für Ausstellungstafeln, aber auch eine zeitgemäße Gedenkstättenpädagogik. In Sachsenburg, meint auch Uwe Hirschfeld, Professor für außerschulische Bildung an der Evangelischen Hochschule Dresden, hätte man die Chance, Gedenkstättenarbeit ganz neu zu denken.

Hirschfeld: „Also man müsste diese Gedenkstätte anlegen wie einen Experimentierraum, das man sagt, ihr seid herzlich eingeladen mit euren Fragen, Irritationen, euren Problemen hierher zu kommen und wir gucken mal, was hat das dann mit Geschichte zu tun. Und dafür brauche ich Platz.“

Im Mai kam der Bescheid der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten: Man habe das Konzept von Anna Schüller geprüft und für gut befunden. Für den Geschäftsführer der Stiftung, Siegried Reiprich, ist Sachsenburg von europäischer Bedeutung. Themenschwerpunkt der zukünftigen Gedenkstätte sollen die bisher wenig beachteten Frühen KZs sein.

Reiprich: „Auch die totalitäre oder faschistoide oder faschistische, nationalsozialistische Professionalisierung der Täter in ihrer Machtausübungsperfidie. Das hat sich hier entwickelt und hat ausgestrahlt ins gesamte KZ-System, bis hin zu den Vernichtungslagern östlich vom heutigen Deutschland.“

Die Kommandantenvilla wird abgerissen

Sitzung des Frankenberger Stadtrats Ende Juni. Nach einem ausdrücklichen Dank an Anna Schüller beschließt der Stadtrat einstimmig, die Errichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen KZ Sachsenburg.

Beschlossen wird eine Gedenkstätte in Zellengebäude und Kommandantur. Außerdem wird es eine Außenausstellung geben, das heißt 14 Informationsstelen im Gelände. Die ehemalige Kommandantenvilla, die bereits im Besitz der Stadt ist, wird trotz Denkmalschutz bis auf die Grundmauern abgerissen. Rund 1,2 Millionen Euro sind veranschlagt, die von Land und Bund kommen sollen. Die zuständige Ministerin habe den sächsischen Anteil bereits in den kommenden Doppelhaushalt eingestellt.

Anna Schüller lächelt und bleibt gewohnt sachlich:

„Also ein Gefühl ist einerseits, dass ich mich freue, dass es jetzt vorangeht. Das ist ein Riesenschritt, dass jetzt die Gedenkstätte entsteht. Andererseits bin ich auch ein bisschen traurig, dass ja sich die Stadt hier auch Dinge verschenkt, aus meiner Sicht.“

Das KZ Sachsenburg ist bis heute als Gesamtensemble erhalten. Das wird sich mit dem Abriss der Kommandantenvilla im Stil des Historismus, deren liebliche Architektur mit den klaren Formen der Industriegebäude kontrastiert, ändern. Das sei bedauerlich, sagt Bürgermeister Firmenich, aber die Villa sei nach den letzten Hochwassern völlig verschwammt.

Firmenich: „Ziel ist, die Erinnerung wach zu halten, aufzuarbeiten und natürlich Bürger einzuladen, das kennenzulernen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Das können wir mit diesem, was wir heute beschlossen haben, sehr wohl erreichen.“

Mit der Schaffung einer Gedenkstätte in Sachsenburg ist dank bürgerschaftlichen Engagements viel erreicht. Für den großen Wurf fehlten die politischen Mehrheiten.

Und eine Frage bleibt ungeklärt: Was passiert mit dem fünfstöckigen Fabrikgebäude mit den Schlafsälen der Häftlinge? Am Ende vielleicht doch Saunabetrieb, Fitnesscenter oder Großraumdisco? Nun ist wieder der Eigentümer am Zug. Aber auch Anna Schüller und ihren Mitstreitern ist klar: Es gibt noch viel zu tun.

Quelle:

Deutschlandradio Kultur https://www.deutschlandfunkkultur.de/kz-sachsenburg-der-zaehe-kampf-um-angemessenes-gedenken.1001.de.html?dram%3Aarticle_id=421800